Dü-düm.
Man muss es gehört haben, um es verstehen und einordnen zu können. Die Benachrichtigung über eine eingehende Nachricht auf der Online-Plattform KontaktOrt ist unverkennbar. Wer sie einmal gehört hat, vergisst sie nie wieder.
Manche Paarbeziehungen sind wegen des Geräusches schon unter Druck geraten:
„Schatz? Was war das für ein Sound? Ich dachte, du buchst unseren Sommerurlaub?“
„Ich weiß auch nicht, bestimmt eine Spielewerbung oder so …“
Das charakteristische Signal wird nur ausgegeben, wenn der Nutzer die Plattform auf einem Desktop-Computer oder einem Laptop geöffnet hat; in der Mobile App gibt es keine Klanguntermalung (dafür die Funktion, den Inhalt eingehender Nachrichten nicht sofort anzeigen zu lassen, sondern stattdessen erfundene Kinotipps – clever!).
Für Tim und Sandra war der KontaktOrt schon häufiger Anlass zur Diskussion.
Tim ist Ende zwanzig, Ingenieur und strebsam. Beruflich wie gesellschaftlich brach er nie aus der Norm aus. Mit einer Körpergröße von einsfünfundsiebzig und einem harmoniebedürftigen Gemüt strahlt er keine Gefahr aus. Stets möchte er es Sandra recht machen und überhaupt befindet er sich seit fünfzehn Jahren ununterbrochen hintereinander in stabilen Beziehungen. Die Frauen schätzen an ihm seine Loyalität, dass er ein netter Kerl sein kann und die emotionalen Werte. Er kennt das Spiel mit dem Feuer nicht, mehr noch, es ängstigt es ihn, und genau das ist ein Knopf, den Sandra zu drücken vermag. Nicht aus böser Absicht, sondern weil sie nicht anders kann. Ab und zu brechen ihre düsteren Seiten in ihr durch und sie prüft ihren Tim und fordert seine Männlichkeit heraus. Wie vor ein paar Wochen mit der Anmeldung im KontaktOrt.
Sandra ist Mitte zwanzig und ebenfalls akademisiert. BWL – auch wenn das keine leichte Entscheidung war. Sie hätte auch gern „was mit Medien“ gemacht oder eine Ausbildung im Versicherungswesen. Computer, das war was, was sie immer wollte, und Kundenkontakt. BWL ist eine gute Lösung und sie hat einen sicheren Job in einer Unternehmensberatung, in der sie sogar ein kleines bisschen mehr verdient als Tim. Aufgrund ihrer Computeraffinität hat sie jedenfalls schnell erkannt, dass der KontaktOrt kein billiges Erotikportal ist, sondern eine seriöse Plattform, die die Sinnlichkeit betont. Tim lernte sie auf einer Uni-Party kennen, sie befinden sich in einer stabilen Partnerschaft und denken langsam an eine Familiengründung.
Dennoch, und Sandra leidet darunter, verglimmt ihre Lust nach Abenteuern nicht. Zwar war sie nie der Typ für Orgien oder wechselnde Bettpartner, aber mit Tim fehlt ihr der Kick, der Reiz, die Überraschung. Hin und wieder bringt er ihr Blumen mit oder lädt sie zum Essen ein. Das ist nett und Sandra belohnt ihn mündlich dafür; aber vorhersehbare Wenn-Dann-Abläufe senken ihre Stimmung und erhärten ein Gefühl der Skepsis.
Da war der eine Abend, an dem sie Unterwäsche gekauft hat. Ursprünglich war sie für Weihnachtsgeschenke unterwegs und ging spontan in den Laden mit den schönen Teilen. Sie griff zu und investierte hundert Euro in neue Dessous. „Er wird Augen machen!“, freute sie sich und inszenierte einen schönen Verführungsabend, in dessen Verlauf es zunächst gutes Essen gab, dann leckeren Nachtisch sowie ein Erotik-Würfel-Spiel, das sie dazu brachte, sich langsam zu entkleiden. Aber dann kam eben auch der Moment, an dem sie realisierte, dass Tim gar nicht gemerkt hat, dass sie neue Dessous trug. Und der Sex hinterher (immerhin kam es dazu!), war genau so durchschnittlich wie die Male zuvor. Rauf und runter. Tief rein, schnell raus. Sperma und Feuchtigkeit. Fünfzehn Minuten dies, fünf Minuten das. Sandra kommt es nicht auf die Dauer an – aber hat er denn so wenig Lust, sich neue Dimensionen zu erschließen? So ein strebsamer Kopf – aber gleichzeitig so wenig Drang, den sexuellen Horizont zu erweitern? Mittlerweile plagten sie Selbstzweifel. Was könnte sie Weiteres tun, um ihn dazu zu bewegen, aus sich raus zu kommen?
„Na gut“, sagte sie sich. „Ich habe ihn überrumpelt.“ Sie wartete ab. Ein Wochenende, zwei Wochenenden. Würde er sich revanchieren? Mit ihrer Freundin Karla tauschte sie sich darüber aus. Sie redete ihr gut zu. „Es ist der falsche Weg, etwas zu erwarten. Wenn du dich für ihn nur deshalb so schön gemacht hast, weil du erwartet hast, dass er etwas zurückgibt, dann ist das toxisch“, mahnte sie. Sie stimmte zu – die Enttäuschung blieb.
Auf der Arbeit, sie war in einer großen Beratungsfirma angestellt, wurden ihr immer wieder Avancen gemacht, auf den Gängen, beim Kaffeeholen, auf der Weihnachtsfeier. Aber sie wusste, wie heikel ein Arbeitsflirt werden könnte, sodass sie ihre Impulse unterdrückte.
Und dann irgendwann … fing sie an zu googlen.
Sie tippte eine Suchphrase ein („Freund will nur langweiligen Sex was tun?“) – und entdeckte über die Suchergebnisse den KontaktOrt. Diese Plattform beherbergt ein Forum, in dem viele hundert Menschen angemeldet sind und Beiträge schreiben. Sie war fasziniert von all den Leuten, die eine ähnliche Erfahrung machen. Viele Fragen, noch mehr Antworten – „wie viel Zeit haben all diese Leute?“, fragte sie sich. Irgendwie ließ sie dieses Forum nicht mehr los und sie wühlte sich stundenlang durch alte Einträge. So viele andere Frauen und Männer waren in einer ähnlichen Situation – wow.
Ihr eigenes Profil war unausgefüllt, ohne Profilbild. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie ihr richtiges Alter oder die korrekte Körperangaben angegeben hatte. Und dann ertönte zum zweiten Mal dieses KLACK-KLACK, der Ton, der anzeigt, dass eine neue Nachricht eingegangen war. Sie kannte ihn, weil er bei der Registrierung abgespielt wird, da sich die Admins automatisiert bei einem Neumitglied melden und es willkommen heißen; sie wusste also, dass sie hier eine sogenannte DirektMail bekommen hatte – und lief rot an, weil sie das nicht kommen sah und die Seite im Inkognito-Modus auf der Arbeit an hatte – im Großraumbüro. Die anderen schauten aber nur weiterhin auf ihre Bildschirme. Puh – offenbar hat das niemand gehört oder aber, niemand kannte das Geräusch, sodass sie niemand hätte enttarnen können. Was wäre das peinlich gewesen.
Die Nachricht eines fremden Mannes. Sie war verdutzt – was könnte er von ihr wollen? Sex natürlich, logisch. Aber wieso sollte sich ein fremder Mann die Mühe machen, sie anzuschreiben? Ihr Profil barg keinerlei Information.
Sie wurde neugierig und öffnete erst die Mail des Mannes und im Anschluss sein Profil. Und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus …
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