Ich staunte nicht schlecht, als ich vor ein paar Wochen sonntags Brötchen holen gehen wollte und an des Nachbars Wohnung vorbeischlich. Es war gegen halb neun morgens und was ich erst zu sehen bekam und dann erleben durfte, werde ich wohl nie wieder vergessen.
Gegen halb neun Uhr morgens wollte ich niemanden wecken. Ich bin ein umsichtiger Mensch, aufmerksam und gutmütig. Ich lebe nachhaltig, weil ich finde, dass wir keinen allzu großen Fußstapfen hinterlassen sollten, wenn wir das Zeitliche segnen. Der Nachbar, von dem die Rede ist, ist ein junger Mann, um die 25, mit einer bildhübschen Freundin, die nicht fest bei ihm wohnt, sondern immer wieder bei ihm zu Besuch ist.
Schon einige Male habe ich dieser Freundin hinterhergeschaut, ohne dass mein Nachbar, ihr Freund, dies mitbekommen hätte. Einmal, da erinnere ich mich, war ich mit ihr allein im Flur und wir unterhielten uns fünfzehn oder zwanzig Minuten über das Viertel. Ich fand sie von Minute zu Minute heißer und sie schien sich ihrer Attraktivität bewusst zu sein. Tief schaute sie mir in die Augen, lächelte und machte mir ein Kompliment. Sie sagte, sie fände mich „cool“, in unserer Nachbarschaft hätten viele einen „Stock im Arsch“. Ich mochte nicht, dass sie sich so ausdrückte, aber gleichzeitig beeindruckte mich ihre offene Art. Erst als ihr Freund sich ankündigte, indem er die Haustür aufschloss, beendeten wir das Gespräch und wünschten uns einen schönen Abend.
Bestimmt sagt sie zu vielen Männern, dass sie sie „cool“ fände, aber mir war das egal, mein Tag hat sich erhellt und ich fühlte mich in unserer sonst sehr anonymen Achtparteiennachbarschaft aufgewertet.
Um erzählen zu können, was an jenem Sonntagmorgen passierte, muss ich unser Wohnhaus beschreiben. Von den acht Wohnparteien liegen sieben im ersten, zweiten und dritten Obergeschoss. Ganzen unten gibt es nur eine einzige Wohnung – hinter dem Eingangsbereich, in dem sich die Briefkästen befinden.
Nach dem Eingangsbereich muss man einen längeren, schlauchförmigen Gang durchqueren, an dessen Ende die Wohnung liegt, die der junge Nachbar bewohnt. Alle Hausbewohner müssen jedes Mal, wenn sie ihre Wohnung verlassen, an dieser Wohnung vorbei – und bei jedem Betreten, zum Beispiel beim Nachhausekommen, auf diese Wohnung zulaufen und dann links an ihr abbiegen und ins Treppenhaus, um die Stufen in die oberen Geschosse zu erklimmen.
Vor ein paar Wochen also ging ich sonntags Brötchen holen, es war gegen halb neun. Da ich niemanden wecken wollte, war ich leise und schlich an der untenliegenden Wohnung meines Nachbarn vorbei. Ich stutzte, denn seine Tür stand sperrangelweit offen. Ich ging an seiner Wohnung vorbei und lugte ins Innere seiner kleinen Einzimmerwohnung. Niemand da. Seltsam. „Hallo?“, rief ich schüchtern. Er hatte hoffentlich beim Verlassen der Wohnung nicht vergessen, die Tür hinter sich zu schließen?
„Es wird schon seinen Grund haben“, beruhigte ich mich und setzte meinen Weg fort zur Haustür und Straße. Ich kaufte Brötchen beim dreihundert Meter entfernten Bäcker und kehrte zurück, den To-Go-Kaffee in der rechten und die Brötchentüte in der linken Hand. Wie jeden Sonntag stellte ich den Kaffee auf dem nach draußen ragenden Briefkastenabteil ab und schloss die Tür auf. Ich trat ins Haus hinein und begab mich in den schlauchartigen Flur und ging frontal auf die Wohnung des Pärchens zu – die Tür stand immer noch offen.
Jetzt aber war die Wohnung nicht mehr leer. Mit jedem Schritt, den ich näher in deren Richtung machte, weil ich an der Wohnung vorbei ins Treppenhaus gelangen wollte, erkannte ich, dass seine Freundin auf einer Vorrichtung gefesselt war – mit gespreizten Beinen, als läge sie auf einem Gynäkologenstuhl, bereit zur Untersuchung. „Oh, ich …“, entfuhr es mir. Es wirkte surreal – ich war doch nicht noch am Träumen?
Seine Freundin guckte mir beschämt in die Augen – und dann sofort weg. Sie war komplett nackt, auf ihren Brustwarzen klebte Tape und ihre Weiblichkeit war von einem Schlüpfer bedeckt. Aber sonst war sie nackt. Ihre Brüste waren so groß wie sie immer unter ihrem Shirt angedeutet waren. Sie wirkte nicht, als fühlte sie sich in Gefahr oder als wäre sie gezwungen worden; gleichwohl schämte sie sich, das sah ich ihr an. „Ich … ähm“, stotterte ich. Da trat ihr Freund aus dem Badezimmer hervor. „Oh, hi!“, sagte er, „guten Morgen! Du hast Brötchen mitgebracht?“ – „Ich …“, stotterte ich weiterhin, „… was treibt ihr da?“ – „Keine Ahnung, Meike hatte Lust, Nachbarn zu verstören. Offensichtlich ist ihr das gelungen“, antwortete ihr Freund, als wäre sie gar nicht zugegen und als wäre es das normalste der Welt.
Ich schaute ihr in die Augen und realisierte, dass sie uns mehr oder weniger ausgeliefert war. Das versetzte mir einen Adrenalinstoß. Weiterhin wirkte sie nicht, als wolle sie der Situation entkommen … blitzte da sogar ein herausforderndes Grinsen auf? „Lass mich dir das abnehmen“, ging der Freund auf mich zu und befreite mich von Brötchentüte und Kaffee. „Sieh sie dir ruhig an. Du stehst doch auf sie, oder? Hat neulich jedenfalls so gewirkt.“
„Ich … ähm …“ – noch nie hat mich jemand derart offensiv auf meine Vorlieben angesprochen. „Nein, ich …“, begann ich mich zu rechtfertigen. Ihr Freund rief aus der Küche, ich solle mir keine Sorgen machen, alle würden auf sie stehen. Nicht nur bei uns im Haus – auch auf der Straße, auf Partys. Und sie würde all diese Reaktionen erwidern und es genießen. „Oft erzählt sie mir auch, wie sie sich vorstellt, von ausgewählten Personen gefickt zu werden.“
Was geschah hier? Ich konnte es nicht glauben. Sein Tonfall war, als würde er über eine belanglose Mülltrennungsverordnung referieren. Keine Aufregung in seiner Stimme, als wäre es das normalste der Welt. „Aber sorry …“, fuhr er fort und stellte sich dabei in den Türrahmen, mich fixierend: „… dich hat sie noch nie erwähnt. Wohnst du oben in der Dritten? Wie auch immer. Bedien dich!“
Er ging zurück in die Küche – und ich stand da, perplex, mit leeren Händen. Der Freund wirkte vergnügt und machte sich in der Küche daran, das Frühstück zuzubereiten. „Ist alles … okay bei dir?“, fragte ich seine Freundin. Sie wandte den Blick ab, lächelte verschämt. Ihr Freund kam zurück ins Zimmer, diesmal mit einer Tasse in der Hand: „Hier, dein Kaffee, ich habe ihn umgefüllt. Du bist ja immer noch angezogen. Also … bis zwölf wollte ich dich jetzt nicht hier rumstehen haben.“ Er lachte und forderte mich erneut auf: „Bedien dich!“
Irgendetwas in mir legte einen Schalter um. Egal ob ich träumte oder nicht – offenbar war ich willkommen. Aus der Ferne hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde, offenbar waren kamen andere Nachbarn nach Hause. Wie aus Reflex sprang ich an die Wohnungstür und schloss sie von innen. „Ich mach mal … die Tür zu, ja?“, kommentierte ich. Jetzt stand ich mit den beiden in deren Einzimmerwohnung – der Freund noch immer in der Küche, die Freundin vor mir – und ich mit einem langsam in mir ansteigendem Tatendrang. Niemand hatte etwas dagegen, dass ich hier war. Der Freund nicht, der Hausherr. Er war jünger als ich, bestimmt zehn Jahre, aber ich respektiere seine Privatsphäre. Er gluckste fröhlich in der Küche, während er meine Brötchen aufschnitt. Und die Freundin saß vor mir und schaute mich mittlerweile voller Erwartung an.
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